Analyse des Liedtextes „Sag alles ab“ von Tocotronic
aus dem Jahr 2007 (Album: „Kapitulation“)
Sag alles ab
Geh einfach weg
Halt die Maschine an und
Frag nicht nach dem Zweck
Spreng deine Ketten in die Luft
Und lass das Scheusal doch zuhause
Die Prüfung findet heute nicht statt
Die Karriere macht mal Pause
Sag alles ab
Wirf alles weg
Halt die Maschine an und
Frag nicht nach dem Zweck
Reiß deine Fesseln doch entzwei
Und lass das Dreckschwein mal zuhause
Die Zeit der Schmerzen ist vorbei
Die Karriere macht mal Pause
Sag alles ab
Geh einfach weg
Halt die Maschine an und
Frag nicht nach dem Zweck
Du musst nie wieder
In die Schule gehen
Du wirst das Licht
Deines Lebens vor Dir sehen
Du musst dich doch nicht
Bemühen bemühen
Die Bäume werden doch
Auch von selber grün
Sag alles ab
Geh einfach weg
Halt die Maschine an und
Frag nicht nach dem Zweck
Sag alles ab
Geh einfach weg
Halt die Maschine an und
Frag nicht nach dem Zweck
Im Sinne einer anti-neoliberalen Interpretation sind mit „Ketten“ die Zwänge einer Gesellschaft gemeint, in der man sich mit ausgefahrenen Ellenbogen durchboxen soll und dabei auf die Freuden des Lebens verzichten muß („Zeit der Schmerzen“).
„Du mußt nie wieder in die Schule gehen“ ist wohl weniger auf die Schule im wörtlichen Sinne gemünzt, sondern kann universeller gedeutet werden: Es könnte sich um eine Kritik am Konzept des „lebenslangen Lernens“ handeln, das von Neoliberalen häufig gepredigt wird und im Rahmen dessen das Ziel definiert wird, daß Menschen in den Jahrzehnten nach Abschluß ihres staatlichen Bildungswegs (Schule, Hochschule, Ausbildung) selbstorganisiert und auf eigene Kosten weiterlernen sollen. Das lebenslange Lernen soll zum einen dazu beitragen, Produktivitätspotentiale auch bei älteren Menschen maximal auszuschöpfen und zum anderen dazu, langfristig einen privaten „Bildungsmarkt“ parallel zum staatlichen Bildungssystem zu etablieren.1
Tocotronic fordern, man sollte sich als Ausdruck des absoluten Protests aller Zwänge radikal entledigen und dabei das Ganze nicht von der Vernunft her hinterfragen („Frag nicht nach dem Zweck“), weil man dann möglicherweise seinen Plan wieder verwerfen könnte – wohl auch, weil sich das Denken in Kategorien von Leistungserbringung und Selbstevaluation bereits tief in den eigenen Charakter gebrannt hat.
Einschränkend muß angemerkt werden, daß die Wortwahl in Sätzen wie „die Prüfung findet heute nicht statt“ und „die Karriere macht mal Pause“ darauf hindeutet, daß es sich um eine Aufforderung zum vorübergehenden, nicht aber zu einem grundsätzlichen und dauerhaften Ausstieg handelt.
Das Ziel der geforderten Rebellion und des Ausstiegs ist im Satz „Du wirst das Licht Deines Lebens vor Dir sehen“ komprimiert. Es geht also um den Sinn und das Glück im Leben, welche nach Meinung Tocotronics nicht durch ständiges Arbeiten und Lernen erlangt werden könnten. Dieses Bild von Licht und Freiheit wird den Bildern von Gefangenschaft („Ketten“, „Fesseln“) und des Leistungsdrucks („Prüfung“, „Maschine“, „Schule“) entgegengesetzt. „Laß das Dreckschwein mal zu Hause“ kann als Ablehnung des rücksichtslosen Verhaltens gewertet werden, das im Milieu der Karriere- und Erfolgsorientierten verbreitet ist.
Der vieldeutige Seitenhieb „Du musst Dich doch nicht bemühen bemühen. Die Bäume werden doch auch von selber grün“ kann dahingehend interpretiert werden, daß Leistungs- und Karrierestreben im Lichte des Großen und Ganzen relativiert betrachtet werden müßten. Der einzelne Mensch habe ohnehin nur einen begrenzten Einfluß auf die Entwicklung der Welt, so daß der Ehrgeiz in diesem Sinne verschwendete Energie sei und man sich nicht so wichtig nehmen solle.
1 Das lebenslange Lernen soll an dieser Stelle aber nicht grundsätzlich kritisiert werden, da es zu begrüßen ist, wenn Menschen ihr ganzes Leben lang einen offenen Blick für Veränderungen behalten. Nur sollte Fortbildung beispielsweise im Rahmen offener Universitäten stattfinden und nicht durch Bildungsdienstleister vermittelt werden, die ökonomische (Eigen-)Interessen verfolgen.
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