Das Buch über den Neo­liberalis­mus im Alltag der „ganz normalen Men­schen“

Momo - von Michael Ende aus dem Jahr 1973
.

 

 

Der Roman Momo beschreibt eine Welt, die vom sogenannten Zeitsparen besessen ist. Die Bürger der beschriebenen Gesellschaft haben, bedingt durch den effektiven Lobbyismus und das Gehirnwäsche-Marketing einer Gruppe von Zeit-Bankern, nur noch ein Lebensziel: Zeit einzusparen. Dies bedeutet, daß die Menschen zugunsten der Arbeit ihre Freizeit und zwischenmenschlichen Bezie­hungen aufgeben. Traditionelle Werte wie Freundschaft, Loyalität zur Familie oder allge­mein nichtmaterielle Ziele im Leben sind hingegen in den Hintergrund getreten.

Wie diese Gesellschaft mitsamt den vorherrschenden Wertevorstellungen dar­gestellt wird, wie Zeitspar-Lobbyisten arbeiten und vor allem welche Parallelen zu unserer Gesellschaft zu ziehen sind, soll anhand einiger Passagen verdeutlicht wer­den. Zunächst in einem Abschnitt, der die Unterhaltung eines Friseurs mit einem der Vertreter des Zeitsparens darstellt:

 

„‚Womit kann ich dienen?‘ fragte er verwirrt, ‚Rasieren oder Haare schneiden?‘ und verwünschte sich im gleichen Augenblick wegen seiner Taktlosigkeit, denn der Herr hatte eine spiegelnde Glatze.
‚Keines von beiden‘, sagte der graue Herr, ohne zu lächeln, mit einer seltsam tonlosen, sozusagen aschengrauen Stimme. ‚Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich bin Agent Nr. XYQ/384/b. Wir wissen, daß Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen.‘
‚Das ist mir neu‘, erklärte Herr Fusi noch verwirrter. ‚Offengestanden, ich wußte bisher nicht einmal, daß es ein solches Institut überhaupt gibt.
‘‚Nun, jetzt wissen Sie es“, antwortete der Agent knapp. Er blätterte in seinem Notiz­büchlein und fuhr fort: ‚Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur?‘
‚Ganz recht, der bin ich‘, versetzte Herr Fusi.
‚Dann bin ich an der rechten Stelle‘, meinte der graue Herr und klappte das Büch­lein zu. ‚Sie sind Anwärter bei uns.‘
‚Wie das?‘ fragte Herr Fusi, noch immer erstaunt.
‚Sehen Sie, lieber Herr Fusi‘, sagte der Agent, ‚Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifen­schaum. Wenn Sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie nie gegeben. Wenn Sie Zeit hätten, das richtige Leben zu führen, wie Sie das wünschen, dann wären Sie ein ganz anderer Mensch. Alles, was Sie also benötigen, ist Zeit. Habe ich recht?‘
‚Darüber habe ich eben nachgedacht‘, murmelte Herr Fusi und fröstelte, denn trotz der geschlossenen Tür wurde es immer kälter.
‚Na, sehen Sie!‘ erwiderte der graue Herr und zog zufrieden an seiner kleinen Zigarre. ‚Aber woher nimmt man Zeit? Man muß sie eben ersparen! Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen. Eine Minute hat sechzig Sekunden. Und eine Stunde hat sechzig Minuten. Können Sie mir folgen?‘ ‚Gewiß‘, sagte Herr Fusi.
Der Agent Nr. XYQ/384/b begann die Zahlen mit einem grauen Stift auf den Spiegel zu schreiben. ‚Sechzig mal sechzig ist dreitausend­sechshundert. Also hat eine Stunde dreitausendsechshundert Sekunden. Ein Tag hat vier­und­zwanzig Stunden, also dreitausendsechshundert mal vier­und­zwanzig, das macht sechs­und­achtzigtausendvierhundert Sekunden pro Tag. Ein Jahr hat aber, wie bekannt, dreihundertfünfundsechzig Tage. Das macht mithin ein­unddreißig­millionen­fünf­hundert­undsechsund­dreißig­tausend Sekunden pro Jahr. Oder dreihundert­fünfzehn­millionen­drei­hundert­undsechzig­tausend Se­kun­den in zehn Jahren. Wie lange, Herr Fusi, schätzen Sie die Dauer Ihres Lebens?‘
‚Nun‘, stotterte Herr Fusi verwirrt, ‚ich hoffe so siebzig, achtzig Jahre alt zu werden, so Gott will.‘‚Gut‘, fuhr der graue Herr fort, „nehmen wir vorsichtshalber einmal nur siebzig Jahre an. Das wäre also dreihundertfünfzehn­millionen­dreihundert­sech­zig­tausend mal sieben. Das ergibt zweimilliarden­zweihundert­sieben­millionen­fünf­hundert­zwan­zig­tausend Sekunden. Und er schrieb diese Zahl groß an den Spiegel: 2.207.520.000 Sekunden. Dann unterstrich er sie mehrmals und erklärte: ‚Dies also, Herr Fusi, ist das Vermögen, welches Ihnen zur Verfügung steht.‘ Herr Fusi schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Die Summe machte ihn schwindelig. Er hätte nie gedacht, daß er so reich sei.
‚Ja‘, sagte der Agent nickend und zog wieder an seiner kleinen grauen Zigarre, ‚es ist eine eindrucksvolle Zahl, nicht wahr? Aber nun wollen wir weitergehen. Wie alt sind Sie, Herr Fusi?‘
‚Zweiundvierzig‘, stammelte der und fühlte sich plötzlich schuldbewußt, als habe er eine Unterschlagung begangen. ‚Wie lange schlafen Sie durch­schnittlich pro Nacht?‘ forschte der graue Herr weiter.‚Acht Stunden etwa‘, gestand Herr Fusi.Der Agent rechnete blitzgeschwind. Der Stift kreischte über das Spiegel­glas, daß sich Herrn Fusi die Haut kräuselte. ‚Zweiundvierzig Jahre – täglich acht Stunden – das macht also bereits vierhundert­einund­vierzig­millionen­fünf­hun­dert­und­vier­tausend. Diese Summe dürfen wir wohl mit gutem Recht als verloren betrachten. […]Nun kommt Ihnen aber auch noch eine gewisse Zeit abhanden durch die Not­wendigkeit, sich zu ernähren. Wieviel Zeit benötigen Sie insgesamt für alle Mahl­zeiten des Tages?‘‚Ich weiß nicht genau‘, meinte Herr Fusi ängstlich, ‚vielleicht zwei Stun­den?‘
‚Das scheint mir zu wenig‘, sagte der Agent, „aber nehmen wir es einmal an, dann ergibt es in zwei­undvierzig Jahren den Betrag von hundert­zehnmillionen­dreihundert­sechsund­siebzig­tausend. Fahren wir fort! Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde, das heißt, Sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und sie kaum noch hört.Es ist also hinausgeworfene Zeit: macht fünfundfünfzigmillionen-ein­hun­dert­achtundachtzigtausend. Ferner haben Sie überflüssigerweise einen Wellen­sittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet, das be­deutet um­ge­rechnet dreizehnmillionensieben­hundertsieben­und­neunzig­tausend.‘
‚Aber …‘, warf Herr Fusi flehend ein.‚Unterbrechen Sie mich nicht!‘ herrschte ihn der Agent an, der immer schneller und schneller rechnete. ‚Da Ihre Mutter ja behindert ist, müssen Sie, Herr Fusi, einen Teil der Hausarbeit selbst machen. Sie müssen ein­kaufen gehen, Schuhe putzen und dergleichen lästige Dinge mehr. Wie viel Zeit kostet Sie das täglich?‘‚Vielleicht eine Stunde, aber …‘
‚Macht weitere fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend, die Sie verlieren, Herr Fusi. Wir wissen ferner, daß Sie einmal wöchentlich ins Kino gehen, einmal wöchentlich in einem Gesangverein mitwirken, einen Stamm­tisch haben, den Sie zweimal in der Woche besuchen, und sich an den übrigen Tagen abends mit Freunden treffen oder manchmal sogar ein Buch lesen. Kurz, Sie schlagen Ihre Zeit mit nutzlosen Dingen tot, und zwar etwa drei Stunden täglich, das macht einhundertfünf­und­sechzig­millionen­fünf­hundert­vierund­sech­zig­tau­send. – Ist Ihnen nicht gut, Herr Fusi?‘
‚Nein‘, antwortete Herr Fusi, ‚entschuldigen Sie bitte …‘“

 

Die absolute Fixierung auf Effizienz in allen Lebensbereichen ist das zentrale Thema des hier sprechenden „grauen Herrn“. Da von ihm ausschließlich mit Arbeit und materieller Wohlstandssteigerung verbundene Lebensinhalte als wert­voll aner­kannt werden, überträgt er den Effizienzwahn konsequent auch auf andere Lebens­bereiche (hier Familien­leben, Haustiere, Freizeit) und auf die Lebens­zeit insgesamt. Diese wird vom grauen Herrn in Geld umgerechnet („Zeit ist Geld“). Etwas, das eigentlich nicht in Geld ausgedrückt werden dürfte, nämlich der emo­tionale, nicht „produktive“ Teil des Lebens des Herrn Fusi, wird hier monetarisiert und einem abstrakten Gesamtsystem, nämlich dem langfristigen materiell-geld­lichen (zeitlichen) Wohlstand untergeordnet. Auch soziale und kulturelle Freizeit­beschäftigungen wie das Musizieren, das Zusammensein mit Gleich­gesinn­ten und das Lesen von Literatur könnten für ihn als Friseur weder finanziell noch arbeits­technisch ver­wertet werden und sollten daher eingestellt werden. Auf der anderen Seite wird Herrn Fusi der Köder vorgehalten, er erlange durch das lang­fristige „Zeitsparen“ eine Art Guthaben, von dem er später zehren könne.
Genau diese Argumentationslinie findet sich auch im Neo­liberalis­mus wieder: So wird die Forderung formuliert, stets fleißig und angepaßt das Bildungs- und Berufs­system zu durchlaufen. Nur so, heißt es, werde man den Notwen­digkeiten einer globalisierten Ökonomie gerecht und nur so könne der gesell­schaftliche und per­sönliche Wohl­stand langfristig ge­sichert werden. Das gesamte Leben soll, wie in Momo dargelegt, der Arbeit und der Funktion im ökonomischen System unter­geordnet werden.
In den weiteren Passagen wird gezeigt, wie sehr sich diese Ideologie auch durch weitere Ge­sell­schafts­be­reiche der Dystopie zieht:

 

„Ob einer seine Arbeit gern oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig – im Gegenteil, das hielt nur auf. Wichtig war ganz allein, daß er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete.
Über allen Arbeitsplätzen in den großen Fabriken und Bürohäusern hingen deshalb Schilder, auf denen stand: ZEIT IST KOSTBAR – VERLIERE SIE NICHT! oder: ZEIT IST (WIE) GELD – DARUM SPARE!
Ähnliche Schilder hingen auch über den Schreibtischen der Chefs, über den Sesseln der Direktoren, in den Behandlungszimmern der Ärzte, in den Ge­schäften, Restaurants und Warenhäusern und sogar in den Schulen und Kinder­gärten. Niemand war davon ausgenommen. Und schließlich hatte auch die große Stadt selbst mehr und mehr ihr Aussehen verändert.

Die alten Viertel wurden abgerissen, und neue Häuser wurden gebaut, bei denen man alles wegließ, was nun für überflüssig galt. Man sparte sich die Mühe, die Häuser so zu bauen, daß sie zu den Menschen paßten, die in ihnen wohnten; denn dann hätte man ja lauter verschiedene Häuser bauen müssen. Es war viel billiger und vor allem zeitsparender, die Häuser alle gleich zu bauen. Im Norden der großen Stadt breiteten sich schon riesige Neubauviertel aus. Dort erhoben sich in endlosen Reihen vielstöckige Mietskasernen, die einander so gleich waren wie ein Ei dem anderen. Und da alle Häuser gleich aussahen, sahen natürlich auch alle Straßen gleich aus. Und diese einförmigen Straßen wuchsen und wuchsen und dehnten sich schon schnurgerade bis zum Horizont – eine Wüste der Ordnung! Und genauso verlief auch das Leben der Menschen, die hier wohnten: Schnur­gerade bis zum Horizont! Denn hier war alles genau berechnet und geplant, jeder Zentimeter und jeder Augenblick. Niemand schien zu merken, daß er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, daß sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen jedoch bekamen es die Kinder, denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit. Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.“

 

In diesen Absätzen wird der konsequente Umbau der Ge­sell­schaft nach Maß­stäben von Effizienz und ökonomischer Logik beschrieben. Eine Kernaussage ist, daß es in einer ökonomistisch­-neo­liberalen Welt keinen Ge­sell­schafts­be­reich gibt, der nicht auf Kosten von Kultur und historisch gewachsenen Strukturen umgebaut wird.Dies etwa trifft auch auf das Architekturparadigma in unserer realen Ge­sell­schaft, vor allem seit den 1950er Jahren zu. Wer nun meint, Platten- und Betonarchitektur beschränke sich auf die 1960er und 1970er Jahre, der möge sich die Glas- und Aluminium-Investorenarchitektur von heute noch einmal genauer anschauen. Auch auf die Kapitalisierung der Wohnungswirt­schaft geht Michael Ende bei­läufig ein. Wie in der realen Gesellschaft dominieren (mit Ausnahme der Wohnge­nossen­schaf­ten) Renditeerwartungen das System und es wird wenig oder keine Rücksicht auf die Interessen der Bewohner genommen (es sei denn, sie verfügen über sehr viel Geld oder können sich Wohneigentum leisten). Die Verödung der Architektur wird in Momo metaphorisch parallel zur Verödung und Gleichschaltung men­schlichen Alltags dargestellt.In den folgenden Passagen wird das wichtige Thema der Kindererziehung in einer neoliberalen Ge­sell­schaft aufgegriffen und es wird am Waisenkind Momo exem­plarisch verdeutlicht, was Ziele und Methoden sind, um Kinder zu mani­pulieren und gleich­zuschalten.

 

„[…] fand Momo auf den Steinstufen der Ruine eine Puppe. […] Es war eine ganz besondere Puppe. Sie war fast so groß wie Momo selbst und so naturgetreu ge­macht, daß man sie beinahe für einen kleinen Menschen halten konnte. Aber sie sah nicht aus wie ein Kind oder ein Baby, sondern wie eine schicke junge Dame oder eine Schaufensterfigur. […] Momo starrte sie fasziniert an. Als sie sie nach einer Weile mit der Hand berührte, klapperte die Puppe einige Male mit den Augendeckeln, bewegte den Mund und sagte mit einer Stimme, die etwas quäkend klang, als käme sie aus einem Telefon: ‚Guten Tag. Ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.‘ Momo fuhr erschrocken zurück, aber dann antwortete sie unwillkürlich: ‚Guten Tag, ich heiße Momo.‘ Wieder bewegte die Puppe ihre Lippen und sagte: ‚Ich gehöre dir. Alle beneiden dich um mich.‘ ‚Ich glaub’ nicht, daß du mir gehörst‘, meinte Momo. ‚Ich glaub’ eher, daß dich jemand hier vergessen hat.‘ Sie nahm die Puppe und hob sie hoch. Da bewegten sich deren Lippen wieder und sie sagte: ‚Ich möchte noch mehr Sachen haben.‘     
[…] Die Puppe sagte nichts und Momo stieß sie an. ‚Guten Tag‘, quäkte die Puppe, ‚ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.‘ ‚Ja‘, sagte Momo, ‚ich weiß schon. Aber du wolltest dir doch was aussuchen, Bibigirl. Hier hab’ ich zum Beispiel eine schöne rosa Muschel. Gefällt sie dir?‘ ‚Ich gehöre dir‘, ant­wortete die Puppe, ‚alle beneiden dich um mich.‘ ‚Ja, das hast du schon gesagt‘, meinte Momo. ‚Aber wenn du nichts von meinen Sachen magst, dann können wir vielleicht spielen, ja?‘ ‚Ich möchte noch mehr Sachen haben‘ […] Aber so ver­hinderte Bibigirl gerade dadurch, daß sie redete, jedes Gespräch. Nach einer Weile überkam Momo ein Gefühl, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Und weil es ihr ganz neu war, dauerte es eine Weile, bis sie begriff, daß es die Langeweile war.“

 

Das Erscheinungsbild der Puppe zeigt, wie Kinder in der dargestellten Gesellschaft sein sollen: Sie sollen nicht träumen zwischen Realität und Phantasie, sich nicht in ver­schiedenste Rollen hineindenken und so eine Persönlichkeit entwickeln. Kinder sollen vielmehr konkrete, nach der Wirklichkeit geformte Vorbilder haben – wie eben die Puppe, die eine „schicke junge Dame“ repräsentiert. Der Naturalismus der Puppe soll für das Kind festlegen, wie es sich zu verhalten hat: seriös, angepaßt und vor allen Dingen erwachsen. Die materialistische Ideologie, die der Puppe einprogrammiert ist, soll dafür sorgen, daß auch schon Kindern Kategorien wie Status und das Streben nach Besitz eingeimpft werden (wie es in unserer Ge­sell­schaft etwa durch Werbung oder durch vergleichbare Puppen wie durch „Barbie“ geschieht). Die Puppe soll außerdem Neid lehren. Neidisch kann nur derjenige sein, der sich andauernd mit anderen vergleicht, versucht, in irgend einer Art und Weise überlegen zu sein und sich im Wett­be­werb gegen andere durch­zusetzen. In diesem Fall bedeutet dies, daß Momo mit dieser Puppe mehr Besitz mit höherem Statuswert hat alle anderen Kinder.   
Die Puppe wiederholt ihre materialistischen Sätze immer wieder, damit das Kind irgendwann tatsächlich an sie glaubt. Durch die Selbstdarstellung als perfekte Puppe soll dem Kind die Phantasie genommen werden. Ist eine Puppe bereits perfekt, gibt es schließlich keine Notwendigkeit mehr, sich andere Personen in diesen Gegenstand hineinzudenken. Mit dem Gefühl der Langeweile schließ­lich soll das Kind gezwungen werden, sich noch weiter in den Materialismus hinein­zusteigern. Hätte es Phantasie, würde ihm schließlich eine Muschel und ein Stein zum Spielen aus­reichen und es wäre nicht auf teure Konsumprodukte angewiesen.

 

„Jetzt öffnete der Mann die Wagentür, stieg aus und kam auf Momo zu. In der Hand trug er eine bleigraue Aktentasche. ‚Was für eine schöne Puppe du hast!‘ […] ‚Ich habe dich schon seit einer ganzen Weile beobachtet‘, fuhr der graue Herr fort, ‚und mir scheint, du weißt überhaupt nicht, wie man mit einer so fabelhaften Puppe spielen muß. Soll ich es dir zeigen?‘ Momo blickte den Mann überrascht an und nickte. ‚Ich will noch mehr Sachen haben‘, quäkte die Puppe plötzlich. ‚Na, siehst du, Kleine‘, meinte der graue Herr, ‚sie sagt es dir sogar selbst. Mit einer so fabelhaften Puppe kann man nicht spielen wie mit irgend einer anderen, das ist doch klar. Dazu ist sie auch nicht da. Man muß ihr schon etwas bieten, wenn man sich nicht mit ihr langweilen will.‘    
‚Paß mal auf, Kleine!‘ Er ging zu seinem Auto und öffnete den Kofferraum. ‚Zuerst einmal‘, sagte er, ‚braucht sie viele Kleider. Hier ist zum Beispiel ein entzückendes Abendkleid.‘ Er zog es hervor und warf es Momo zu. ‚Und hier ist ein Pelzmantel aus echtem Nerz. Und hier ist ein seidener Schlafrock. Und hier ein Tennisdreß. Und ein Skianzug. Und ein Bade­kostüm. Und ein Reitanzug. Ein Pyjama. Ein Nachthemd. Ein anderes Kleid. Und noch eins. Und noch eins. Und noch eins …‘ […] ‚damit kannst du erst einmal eine Weile spielen, nicht wahr, Kleine? Aber das wird nach ein paar Tagen auch langweilig, meinst du? Nun gut, dann mußt du eben mehr Sachen für deine Puppe haben.‘ Wieder beugte er sich über den Koffer­raum und warf Sachen zu Momo herüber. ‚Hier ist zum Beispiel eine rich­tige kleine Hand­tasche aus Schlangenleder, mit einem echten kleinen Lippen­stift und einem Puderdöschen drin.‘“

 

Der Agent will das Kind zum materialistischen Handeln überreden. Ohne zu be­rücksichtigen, daß dem Kind die gefundene Puppe offenbar mehr als ausreicht und sie gar nicht auf die Idee kommt, mehr zu fordern, bietet er Momo eine Vielzahl exquisiter Spielzeuge an. Angeblich müsse man dem Spielzeug „etwas bieten“. Die Forderung des Agenten, das Kind solle bereits beim Spielen auf die materiellen Wünsche ihres Gegenübers, in diesem Fall der Puppe, eingehen, soll es vermutlich für das spätere Sozialleben konditionieren. Die Puppe wird durch ihre Sprech­funktion, ihren hohen Grad an Naturalismus und die große Ausstattung an Kleidern als gegenüber anderen Puppen überlegen dargestellt. Dies ent­spricht dem allgemeinen Elitenwahn der neoliberalen Gesellschaft.

 

„‚Man muß nur immer mehr und mehr haben, dann langweilt man sich niemals.‘ […] ‚Nun?‘ sagte der Mann schließlich und paffte dicke Rauch­wolken, ‚hast du jetzt begriffen, wie man mit einer solchen Puppe spielen muß?‘ ‚Schon‘, antwortete Momo.

[…] ‚Was denn, was denn?‘ sagte der graue Herr und zog die Augenbrauen hoch. […] ‚Ich glaub’‘, sagte sie leise, ‚man kann sie nicht liebhaben.‘

[…] ‚Also Momo – nun höre mir einmal gut zu!‘ begann er schließ­lich. […] ‚worauf es im Leben ankommt, ist, daß man es zu etwas bringt, daß man was wird, daß man was hat. Wer es weiter bringt, wer mehr wird und mehr hat als die anderen, dem fällt alles übrige ganz von selbst zu: Freundschaft, Liebe, Ehre und so weiter.‘“

 

Eine ganzheitliche und möglicher­weise gesellschaftskritische Prägung des Kindes durch den Einfluß eines vielfältigen sozialen Umfelds mit unterschiedlichsten Meinungen, Lebenseinstellungen und Charakteren soll durch das Spielen mit aus­schließlich materiellen Dingen und die dadurch entstehende Isolation unter­bunden werden. So soll sich das Kind ungestört konform zum Konsumismus entwickeln.

Die Unmenschlichkeit der neoliberalen Kindererziehung wird im letzten Absatz entlarvt. Momo hingegen ist eine intuitive Humanistin, die immer zuerst an die Menschen und in Kategorien von Freundschaft denkt und fühlt. Sie spürt, daß beim vorgeschlagenen Erziehungs­system nicht der Mensch im Mittelpunkt steht, sondern das System der Effizienz (und des Wirtschafts­wachs­tums), welches von den grauen Herren forciert und aufrechterhalten wird. Als der Agent merkt, daß seine Manipu­lations­versuche nicht anschlagen, gibt er seine Ideologie offen und frei zu. Das schöne Leben finde irgendwann in der Zukunft statt. Zunächst müsse sich das Kind aber an die materia­listische Lebens-, Spiel- und Arbeitsweise anpassen. Ein menschliches Gesell­schafts­system wird so auch dem Kind als Köder für die Zukunft vorgehalten. Bis dahin müsse man aber ein ganz anderes, eben stramm effizientes und materialis­tisches Leben führen.

Diese, wie die anderen dargestellten Passagen aus Momo zeichnen die Dystopie einer vollständig ökonomisierten Gesellschaft, in der das Hauptaugen­merk der Effizienz gilt, die in Form sogenannter „Zeitersparnis“ daher­kommt. Mit Ausnahme von Momo haben die Menschen ihre Mensch­lichkeit fast vollständig verloren und sind zu Automaten geworden, die einem übergeordneten Zweck dienen – den Interessen der Zeit­spar­kasse und den grauen Herren, die sie aus­beuten und emotional zerstören.
Das Buch Momo beschreibt die konkreten Auswirkungen eines neoliberalen Zeitgeists, Wirt­schafts- und Gesellschaftssystems für die Lebenswirklichkeit der Menschen.

 

Die Mutter des Erfolgs


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Kommentare (2)

  • Gast - Tommy

  • Gast - a.nonymous

    29. Mai 2011:
    BWLer sind Menschen, die mit Kennzahlen rechnen koennen, aber keine Ahnung haben, was Kennzahlen sind oder wer sie in diese riesigen Nachschlagewerk e geschrieben hat...
    Natuerlich kann man auch Lebensqualitaet in Kennzahlen ausdruecken... Wenn es mir schlecht geht oder ich keine Zeit haben, kann ich klar sagen, dass es mich X Euro kostet ein Taxi zu nehmen...
    Es ist halt fuer einen BA/MA-Hirngewaschenen Menschen kaum nachvollziehbar , worin der Mehrwert in Dingen jenseits seiner eigenen Lebensweise liegen koennte.
    Momo ist in jeder Hinsicht ein extrem ergibiges Werk!
    Die Puppe diean sich keinen Spass bereitet, auch deren Zubehoer, zu Hauf hinzuerwerbbar, auch keinen Zugewinn bringt, jedoch das Horten und Sammeln von der Sinnesleere ablenkt.
    Zeit und Geld ist eines gemein: wenn man es nutzt ist es am Ende weg... wenn man es nicht nutzt, ist es das auch.

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